Wundertüte für Erwachsene: Warum Online-Dating süchtig macht

Dieser Text entstand 2020. Ich hatte gerade erst mit dem Schreiben angefangen und das Thema «Dating» war bei mir superpräsent. Wild, was seither passiert ist. Viel Spass beim Lesen.

Kennst du diese Wundertüten vom Jahrmarkt? Als Kind eine Tüte voller Möglichkeiten – das Herz raste beim Öffnen, weil alles drin sein konnte. Im Erwachsenenalter ist das der Sextoy-Adventskalender, den Paare sich zu Weihnachten gönnen. Der Schmetterlingsring wird zum Penisring. Der Überraschungseffekt bleibt derselbe. Und genau diese Glücksspiel-Experience bieten auch Dating-Apps.

Die Wahrscheinlichkeit einer Enttäuschung? Hoch. Aber was ist, wenn Du ein echtes Schmuckstück findest?  Der Mensch steht auf Glücksspiele und das motiviert ihn trotz Risiko immer wieder aufs Neue, sich auf eines einzulassen.

Oliver und ich matchen. Die Unterhaltung läuft, er hat Humor, ist schlagfertig. Wir verabreden uns in der Stadt: trinken, essen, kennenlernen. Von seinem Gesicht kenne ich genau die Hälfte – mehr gibt das Foto nicht her. Trotzdem lasse ich mich darauf ein. Oliver ist Lehrer, jobbt als Tontechniker. Mehr erfahre ich vor dem Treffen nicht. Ich finds aufregend, was das perfekte Setup macht – für den grossen ein Reinfall.

Wenn die Realität zuschlägt

Das Glücksspielgefühl verfliegt in der Sekunde, als Oliver am Bahnhof auf mich zukommt. Er sieht anders aus als auf dem Foto – wobei ich fairerweise zugeben muss, dass ich mir die andere Gesichtshälfte schöngemalt hatte. Immerhin können wir uns bei gleicher Körpergrösse direkt in die Augen schauen. Oliver misst 1,61 Meter.

Innerlich schmunzle ich über mich selbst. Wie schaffe ich es immer wieder, in solche Situationen zu schlittern? Der Mensch und sein verdammter Spieltrieb. Da sitze ich nun am Tisch «Blind Date» und muss feststellen: Ich bin scheisse im Setzen.

Vielleicht sollte ich der Jahrmarktindustrie Schuld geben – und den Wundertüten. Die Gambling-Experience für Minderjährige. Der erste Berührungspunkt für substanzunabhängige Suchtmittel. Einstiegsdroge Wundertüte, sozusagen. Denn immer wieder packt mich die Lust auf einen neuen Versuch. Die Karten werden schliesslich täglich neu gemischt.

Grundsätzlich ist das ja auch in Ordnung. Doch Spielhalle, Casino, Dating-Apps – alles kann Spass machen, frustrieren oder zur Sucht werden.

Corona-Dating und andere Absurditäten

Während ich mit Oliver im Burgerrestaurant sitze, frage ich mich, ob ich ein Problem haben. Wie oft muss ich noch auf den falschen Match setzen, bis es mir reicht? Bin ich süchtig und falls ja, an wen wendet man sich? Tinder-Anonymous? Was wäre die Alternative?

Menschen im echten Leben kennenzulernen war schon vor der Pandemie schwer. Doch wir schreiben das Jahr 2020. Sich aktuell Menschen näher als 1,5-Meter zu nähern gilt fast schon als Körperverletzung. Ausserdem bleibt das Maskenproblem: Man kennt wieder nur die Hälfte des Gesichts!

Der Heidi-Klum-Moment

Oliver starrt mich ohne Schutzmaske von der anderen Seite des Tischs an. Seine Augen werden immer hoffnungsvoller. Während er sich freut, muss ich mir überlegen, wie ich aus der Situation wieder herauskomme – und wähle die Hauruck-Variante: «Oliver, es tut mir leid. Aber das mit uns wird nichts».

Es ist eine Art Heidi-Klumm-Moment. Der «Sorry-ich-hab-heute-leider-kein-Foto-für-dich-Moment». Wie die Models nimmt es Oliver einigermassen gefasst auf – mit Tränen in den Augen. Aber er bedankt sich für meine Ehrlichkeit. Ich setze meinen besten Heidi-Blick auf – Bedauern gepaart mit Entschlossenheit. Denke ich zumindest. Vielleicht sehe ich auch aus, als hätte ich gerade ein Chinchilla überfahren.

Die vier Dating-Typen: Meine Gamer-Theorie

Warum ich ihm das so direkt gesagt habe? Auch hier kommt Gambling ins Spiel. Es gibt nämlich verschiedene Männer-Typen beim Dating – angelehnt an die Theorie von verschiedenen Gamer-Typen. Die habe ich als Ausgangspunkt für meine eigene Feldforschung genommen und folgendermassen zusammengefasst:

Der Explorer: Für diesen Dating-Typen geht es um das Erlebnis. Er will entdecken, erfahren, erleben. Erkennungszeichen: Reisefotos ohne Ende. Hört gut zu, erwartet im Gegenzug aber spannende Geschichten. Steht auf Rollenspiele – in jeder Hinsicht. Er kann im Bett aber vor lauter Experimentierfreudigkeit das Ziel aus den Augen verlieren.

Der Achiever: Will gewinnen, Fortschritte sehen, beeindrucken. Definitiv sportlich, postet Gipfelfotos und zeigt dir, was der Nebenberuflich noch alles kann und macht. Er redet gerne über sich selbst und fragt beim Sex garantiert, ob du schon gekommen bist. Legt sich dafür aber auch richtig ins Zeug.

Der Killer: Klingt schlimmer als er ist.  Doch das kommt davon, dass er im Spiel ganz klar Siegen will und seine Gegner bezwingen. Ego-Shooter sind daher sein Favorit. Dabei ist er nicht zwingend aggressiv, aber bereit, alles zu investieren, um Dich zu überzeugen.

Der Socializer: Das ist der Farmsimulator unter den Männern. Er mag friedliche Interaktion, ist ruhig und beständig. Deine Freundinnen werden ihn lieben. Risiko: könnte zu brav werden. Lässt sich aber für Dich aus der Reserve locken.

Das Spiel geht weiter

Oliver ist Lehrer. Also muss er schon fast zum Socializer-Typ gehören. Und genau deswegen entschied ich mich, es ihm direkt zu sagen. Ich möchte jedoch hinzufügen: Jedem Gamer-Typ kann man respektvoll eine Absage erteilen. Schlimmstenfalls droht der Killer, dich in Counter-Strike zu vernichten – aber da gibt es Schlimmeres.

Mein Date muss den letzten Zug erwischen – und ich bin froh über diese natürliche Deadline. Und er ist tatsächlich der Socializer-Typ. Beim Verabschieden noch die Überraschung: Er dealt nebenberuflich. Falls ich was brauche, soll ich mich melden.

So läuft das Wundertütenspiel. Du hoffst auf den Traumpartner und kriegst einen Dealerkontakt. Steige ich deshalb aus? Haha, natürlich nicht. Also her mit den Würfeln, dreimal auf Holz geklopft – vielleicht liegt beim nächsten Zug das Glück besser.

Quellen:
Dreus, N., Wuketich, M. (Hrsg.) (2019). Ambivalenzen des Glückspiels aus soziologischer Perspektive. In Wöhr, A., Wuketich, M. (Hrsg.). Multidisziplinäre Betrachtung des Phänomens Glückspiel. (S. 25-45). Stuttgart: Springer VS

Gebhardt, B., Friede, M. (2019). Gamification- Potentiale und Grenzen im Lebensmittelbereich. In Wöhr, A., Wuketich, M. (Hrsg). Multidisziplinäre Betrachtung des Phänomens Glücksspiel. (S. 45-61). Stuttgart: Springer VS

Wulf, R. (2019). Glückspiel und Prognose. In Wöhr, A., Wuketich, M. (Hrsg.). Multidisziplinäre Betrachtung des Phänomens Glückspiel. (S. 77-93). Stuttgart: Springer VS

J.P. Gerber (2018).  The Psychologie of Blind Dates. New research links burnout to expecting the worst in ambiguous situations. Abgerufen am 30. Oktober 2020 von https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-shape-traits/201809/the-psychology-blind-dates

Nate Hopper, Keziah Weir (7. Mai 2015). Here`s what happened when our bosses sent us on blind date for sience. [Web Log Eintrag]. Abgerufen am 30. Oktober 2020 von https://www.esquire.com/lifestyle/sex/a34824/blind-date-psychology-experiment/