Nackt im Onsen: Wie ich in Japan Frieden mit meinem Körper fand

«Es sind alle nackt da».

Ein Satz, der mich zögern lässt – und trotzdem fahre ich los.

Stirnrunzelnd sitze ich in einem Mietwagen der von Shinjuku, Tokyo aus in Richtung Mount Fuji fährt. Wir sind zu neunt unterwegs, einer ungewöhnlich grossen Reisegruppe für Japan. Weshalb die Devise bei dieser Reise nicht ist: «Wir buchen die erste Nacht und dann mal schauen, was wird». Vielmehr hiess es sechs Monate vorher: «Könnt ihr bitte per Whatsapp noch abstimmen, ob ihr zur Sake-Tour mitkommt oder nicht?». 

Das kann gefallen – oder nicht. Ich war noch nie in Japan und nicht alle in der Gruppe kannten sich. Deshalb finde ich es für diese Reise passend.

Ziel an diesem Tag ist ein Onsen in der Nähe des Mount-Fuji. Der Berg gilt als heiliges Wahrzeichen des Landes. Er ist das Matterhorn Japans, sozusagen. Wobei letzterer den Schweizerinnen und Schweizer schon heilig ist, aber anders heilig. Vielleicht mehr wie der Zopf am Sonntag, oder die Nachtruhe ab 22.00 Uhr.

Onsen statt Wellness

Wäre ich zu Hause, hätte ich gesagt, wir sind auf dem Weg in ein Wellness-Center. Aber so war es nicht. Und auch nicht wie eine Sauna, in der sich ebenfalls nackte Menschen tummeln. Und ich deswegen meide, ganz nebenbei. Nackt sein in der Gruppe ist echt nicht mein Ding. Und Saunas sind nichts anderes als in Dampf getarnte Hippie-Kommunen. Change my mind.

Viel mehr sind Onsen natürlich heisse Quellen, die sich durch vulkanische Aktivität unter der Erde bilden. Du kennst vielleicht Bilder von Makaken-Affen, die in genau solchen Quellen baden. Die haben Wellness entdeckt, noch bevor es der amerikanische Medizinstatistiker Halber L. Dunn, Godfather of Wellness, in den 70er Jahren tat.   

Dunn ist übrigens einer der Ersten, der Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit sah. Für Gesundheit brauche es mehr. Wie, dass der Einzelne «in Übereinstimmung mit den Elementen seiner Natur und innerhalb seiner Umgebung seine persönliche Befriedigung und seinen Lebenszweck finden muss». Dazu gehöre unter anderem die Möglichkeit, seine Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen, und ein würdevoller Platz unter seinen Mitmenschen.

Nacktsein ist (nicht) mein Ding

Mein würdevoller Platz unter meinen Mitmenschen ist aktuell auf der Rückbank eines schwarzen Toyotas hinten links. Und ich hatte keine Lust, meine Einzigartigkeit in einer japanischen Badeanstalt zur Schau zur stellen. «Schon komisch», muss ich mir selbst gestehen. Schliesslich habe ich kein Problem damit, andere Menschen nackt zu sehen. Denn wer einmal in Berlin richtig feiern war, weiss, dass von zu viel Stoff nichts gehalten wird. Und ich fand es klasse. Doch bei mir selber hört es dann auf. 

«Du musst nicht rein, wenn du nicht willst», meint Lewon hinter dem Steuer, der meinen Unmut zu spüren scheint. «Und Frauen und Männer sind getrennt», fügt er an. 

Mir blieben noch eineinhalb Stunden, um mürrisch aus dem Fenster zu schauen, während sich die Landschaft von Millionen-Metropole in kleine Flüsse und Wälder verwandelte. Meine Social-Battery war gerade leer, also versank ich in Gedanken. 

Keine Zeit für Scham

Zurück zum Zeitpunkt als ich mit 17 Jahren ein Frauenmagazin las. Darin war ein Test beschrieben, um zu wissen, ob man Hängebusen hat oder nicht.  «Lege einen Stift unter deinen Busen. Wenn er fällt, hast du keine», war ungefähr die Beschreibung.

Mein Stift fiel nicht. Was fiel war der Entschluss, dass ich von dem Tag an hässliche Brüste habe. Und ich sie nicht mag. Blöder Stift. Blöde Busen. Durch die Pille wurden sie üppiger. Andere machten mir Komplimente. Ich schämte mich für sie.

Im Tenzan Tohjo-kyo Onsen angekommen, bleibt mir aber keine Zeit mehr für Scham. Kaum in der Garderobe angekommen, ziehen sich alle aus und waschen sich auf Plastikhocker, vor denen kleine Spiegel standen. «Na dann halt», denke ich mir. Jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an.

Frauen, Mondlicht, striktes Redeverbot und (keine) Tattoos

Es ist bereits dunkel. Und der Anblick, der sich mir offenbart, nimmt mir kurz den Atem. Vor mir baden Frauen aller Art in heissem Wasser, schmiegen sich an die Felsen und schauen in den Himmel, während sich der japanische Vollmond von seiner besten Seite zeigt. Der Anblick war gefüllt von Mystik und Magie. Es herrschte striktes Redeverbot und die Frauen, still dasitzend, verschleiert in weissem Dampf und von Mondlicht geküsst, wirken auf mich wie Sirenen. «Wir sind schon ganz besondere Wesen», schiesst es mir durch den Kopf. 

Das Besondere an diesem Onsen ist auch, dass tätowierte Körper erlaubt sind. Kleiner Fun Fact: Normalerweise haben tätowierte Menschen keinen Zugang zu Onsen, da Tattoos in Japan als Gangzugehörigkeit zu der japanischen Mafia, den  «Yakuza», gesehen werden. Trotzdem haben die meisten Frauen da, mich inklusive, keine Tattoos. Kleiner Bonustipp: Auch wenn tätowierte Personen im Onsen sind, die da sein dürfen, rät sich, nicht miteinander zu reden.

Ich wechsle vom Dampfbad, zu Kaltbad zurück in die heissen Quellen. Dabei mache ich es den anderen Frauen nach und trage mein weisses Handtuch auf dem Kopf, damit es nicht nass wird. Damit kann man sich auch mal ausserhalb der Quellen entspannt hinsetzen.

Regeln brechen

Zu Beginn husche ich noch von Quelle zu Quelle, bis ich merke, dass es wirklich niemanden um mich herum interessiert, wer ich bin und wie ich ausschaue. Und das entspannt mich. 
In der kalten Quelle treffe ich auf Grace, die zu meiner Gruppe gehört, dessen eigentlicher Name Youbin ist. Wie in ihrem Heimatland Korea üblich, hat sie sich noch einen westlichen Namen zugelegt, um es ihrem nicht asiatischen Umfeld leichter zu machen. «Eigentlich schade», denke ich mir. Mit ihr breche ich kurz das Redeverbot.

«Gingst du in Korea als Kind auch in Onsen?», will ich von ihr wissen. «Ja», meint sie. Sie hätte aber mit 16 Jahren damit aufgehört, da sie es in dem Alter komisch fand, andere Menschen nackt zu sehen. Spannend, denke ich mir. Etwa im gleichen Alter, als ich entschied, meinen Körper doof zu finden.

Ein Stück überraschende Versöhnung

Nach etwa 90 Minuten wird es Zeit zu gehen. Noch einmal setze ich mich auf einen der Plastikhocker, um mich zu waschen. Anders, als bei der Ankunft, schaue ich mich entspannt im Spiegel an, während ich warmes Wasser aus einem Holzgefäss über mich giesse. Sich so zu waschen, kann ich nur empfehlen. Es hat etwas ganz Bewusstest, sich dabei anzuschauen.

Ich bin ein unruhiger Mensch, ständig auf Empfang, ständig im Austausch mit anderen und mir selbst. Doch zu meinem eigenen Erstaunen fühlte ich mich nach dieser Erfahrung so geerdet, wie schon lange nicht mehr. Ich habe keinen Gedanken in mir. Spüre keine Verurteilung – weder zu mir, noch meiner Umwelt. Ich war einfach. Wie alle um mich herum einfach waren. Wie wunderbar, gefühlt mitten im Nirgendwo, auf der anderen Seite der Welt, so eine Erfahrung machen zu dürfen. 

Und entgegen aller Erwartungen fand ich ein Stück Versöhnung mit mir selbst.