Veröffentlicht in der Herbstausgabe 2024 des «Globetrotter»-Magazins: Eine persönliche Reise durch Kalabrien, auf den Spuren von scharfen Chilis, farbigen Murales – und der leisen Verbindung zwischen Enkelin und Grossvater.
Nonno schafft das
«Denkst du, Nonno schafft das?», frage ich Mama. «Einfach mal buchen. Kommt schon gut», meint sie.
Uns war beiden nicht bewusst, dass aus «einfach mal buchen» ein 17-Stunden-Ausflug mit meinem 82-jährigen Opa werden würde. Doch es war mein erster Besuch in Kalabrien, seit Nonna nicht mehr da ist, und ich wollte unbedingt etwas mit ihm unternehmen.
Nonno ist einverstanden. Er erzählt bereits vor meiner Ankunft allen auf der Piazza von Santa Severina, dass ich komme und wir zusammen mit einem Reisebus nach Diamante fahren zum «Festival del Peperoncino». Seine einzige Bedingung: Er sitzt vorne – am Fenster.
Im süditalienischen Reisebus
Am Samstag ging es los, zu dem Fest, an dem die Chilischote gefeiert wird. Genauer gesagt: die Entdeckung Amerikas, wodurch «il Peperoncino» nach Europa und somit in die kalabresische Küche kam. Wir waren die Ersten, die zustiegen, womit Nonno sein Platz am Fenster sicher war.
Falls du noch nie in Süditalien in einem Reisebus gesessen bist, beschreibe ich es dir kurz:
Mein Opa telefoniert über das Handy eines fremden Mitreisenden mit einem alten Schulfreund, während sich die Frau neben dir die Nägel macht, eine Reihe weiter hinten gesungen wird und die Damen vor dir auf YouTube laut Videos zur Bibel mithören, während die Reiseleiterin über ein übersteuertes Mikrofon Informationen gibt.
Kurz: Es ist laut. Und es ist lustig. Und irgendwie erstaunt es nicht, dass ich einen Tinnitus habe, wenn ich darüber nachdenke, wie gewohnt ich so eine Geräuschkulisse bin.
Meine Laune trübt sich erst, als mir klar wird, dass wir die nächsten fünf Stunden so verbringen werden. Uff. Von der Ost- zur Westküste Kalabriens dauert es eigentlich 2,5 Stunden. Doch auf den 166 Kilometern wollte gefühlt jeder zusteigen.
«Hätten wir lieber das Auto nehmen sollen?», frage ich Nonno mit schlechtem Gewissen. «No», meint er. Schliesslich hätten wir so mehr vom Panorama. «Vero», stimme ich ihm dankbar zu.


Diamante: Stadt der Chilischoten
Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit da sind, stürme ich mit der kompletten AHV-Gang das 5000-Seelen-Dorf, dessen Name den Römern zu verdanken ist, die hier mit Diamantsplittern handelten. Doch in Diamante sind nicht «Diamonds a girl’s best friend», sondern – Chili.
Überall sind Stände, an denen die Feuerfrucht in verschiedensten Variationen angeboten wird. Ein Mann hat seine Ape, also Vespa mit Ladefläche, komplett mit Peperoncini garniert. Beim Vorbeilaufen schenkt er mir ein Bündel davon, was mich zum Schmunzeln bringt. Oder hast du schon mal Blumen in Form von Chilischoten bekommen?
Warten, erinnern, loslassen
Doch kaum richtig vor Ort – bewegt Nonno keinen Fuss mehr. «Dein Ernst?!», frage ich ihn sichtlich genervt. Schliesslich haben wir die Reise doch nicht gemacht, um uns direkt wieder hinzuhocken! «Der hat echt Nerven», denke ich mir. Doch er mag nicht mehr laufen. Und ich erinnere mich daran, dass er, genauso wie ich, in den letzten Jahren älter geworden ist. Das vergisst man als Enkelkind manchmal. Und wie einem trotzigen Kind gleich fällt es mir teilweise schwer, diesen Fakt zu akzeptieren.
Murales: Kunst gegen das Vergessen
Also lasse ich Nonno in einem Café Pause machen, während ich in den engen Gassen des Dorfes an wunderschönen Wandmalereien, den sogenannten «Murales», vorbeihusche.
Vor über 40 Jahren hätte hier vermutlich niemand geglaubt, dass dieses Dorf einmal jährlich von Tausenden von Touristen besucht werden würde. Während der Norden Italiens durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, hinkte der Süden hinterher. Viele verliessen das Land. Und die, die blieben, lebten von Handwerk, Landwirtschaft oder der Fischerei.
Doch wie rettet man ein vergessenes Fischerdorf am Tyrrhenischen Meer vor dem Aussterben? Ich kann es dir sagen: Indem der Künstler Nani Razetti aus Liebe zu seiner Wahlheimat 1981 die «Operazione Murales» ins Leben ruft, rund 80 Künstler aus aller Welt holt und das Dorf zum meistbemalten Italiens macht. Und das funktioniert. Denn die Touristen kamen. So wie mein Nonno und ich.
Vor einem der Fresken bleibe ich stehen. Darauf steht eine Frau in einem Hauseingang, gemeinsam mit Männern. Sie alle schauen dich an. Und irgendwie auch nicht. Es zeigt die Menschen, die damals blieben, resigniert, wartend auf Arbeit und bessere Zeiten.
Nonno blieb damals nicht. Und ich denke darüber nach, was gewesen wäre, wäre er doch nicht gegangen. Stünde ich jetzt auch in einem Hauseingang? Wäre ich bereits verheiratet? Was würde ich arbeiten?
So oder so: Ich könnte bestimmt besser kochen, Tarantella tanzen und, ironischerweise, scharfe Chili essen. Weshalb ich mich am Festival über die rote Farbenpracht freue, aber mich davor hüte, in einen der scharfen Glücksbringer zu beissen.
Regen, Musik und Gigi d’Alessio
Dann kommt mir in den Sinn, dass auch Nonno gerade wartet. Zwar nicht auf bessere Zeiten. Aber auf mich.
Ich treffe ihn gerade rechtzeitig, sodass er unter meinen notgekauften Schirm kommen kann, bevor wir vom ersten Platzregen des Abends überrascht werden. So geht es mit nassen Füssen für uns weiter. Muss ja – schliesslich ging es erst abends wieder nach Hause, wenn alle ihre Mitbringsel gekauft haben.
Gerade, als sich Nonno wieder hinsetzen möchte, setzt die Musik ein. Strassenmusiker, die einen leichten Hauch von Fasnacht mitbringen, ziehen durch die Gassen. Und mit ihnen mein Grossvater und ich. Denn wenn es etwas gibt, das wir beide lieben, dann ist es, Lieder von Gigi d’Alessio, Toto Cutugno oder Massimo Ranieri lautstark mitsingen zu können. «Oi Vitaaa, oi Vita miiiaaaa».
Nonno hat sichtlich Freude – und ich auch. Und wir folgen der Blaskapelle so lange, bis es Zeit ist, das Fest zu verlassen. Am Ende muss ich meinen Opa sogar noch motivieren, rechtzeitig zurück beim Bus zu sein.
Es war bereits wieder frühmorgens, als wir todmüde, doch erfüllt vom Festival, in Santa Severina ankommen. Was für ein cooles, kleines, echtes Abenteuer.
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