Vom Dschungel zur Skyline: Mein Kulturschock in Monterrey
Überwältigt schaue ich aus dem Taxi, dass uns vom Flughafen ins Hotel fährt. Als müsste ich mein Herz auf den neuen Rhythmus einstellen, der diese Stadt mit sich bringt. Kurz vorher schwamm ich in Bacalar, im Süden Yucatans, noch in beinahe verlassenen Piratenlagunen. Jetzt fühlt es sich an, als hätte der Mitfahrer mit dem Auxkabel von «Heilende Meditationsmusik» direkt auf Jay-Zs «Empire State of Mind» gewechselt.
Die Industriestadt Monterrey, im Norden des Landes, ist ein Ort, an dem eines im Mittelpunkt steht: Business. Wo im Süden Yucatáns Bäume und Palmen wuchsen und die Welt weit und still wirkte, huschen jetzt Menschen und dampfende Kaffeebecher zwischen Hochhäusern an mir vorbei. Wüsste ich nicht, wo ich bin, hätte ich auf die USA getippt.
Ankommen und Erwartungen
«Schön ist anders», sage ich zu meinem Partner Lars. Doch für Sightseeing sind wir nicht in die drittgrösste Stadt Mexikos im Bundesstaat Nuevo Léon gereist. Sondern um bei einer echten mexikanischen Hochzeit dabei zu sein. Wie cool ist das denn! Oder warst Du schon einmal so weit weg von zu Hause bei so einer Feier dabei? Ich bin gespannt, wie anders ich dies hier erleben würde. Gibt es eine Piñata? Schiesst jemand mit einem Revolver herum?
Hochzeit trifft Totenkult: Wenn Dia de los Muertos und Boda kollidieren
Zwei Dinge überraschen mich sofort:
Erstens: Die Hochzeit fällt aufs gleiche Wochenende, wie die Festlichkeiten zu Dia de los Muertos. Der Tag der Toten gilt ja als DER Feiertag schlechthin in Mexiko. Kinder werden vom Unterricht befreit, um zu Hause den dreistöckigen Altar zu Ehren verstorbener Familienmitglieder zu dekorieren. Und es sei ein regelrechter Wettbewerb, welche Familie den schönsten Totenschrein aufstellt, wie mir ein Guide ein paar Tage vorher bei den Maya-Ruinen «Chacchoben» erklärte.
Doch vielleicht fällt der Tag 230 Kilometer von der texanischen Grenze entfernt, was verhältnismässig nah ist, weniger ins Gewicht. Wobei ich auch hier zu hören bekomme: «Dia de los Muertos is NOT Halloween» (z. Dt.: Der Tag der Toten ist nicht Halloween). Na dann: Ein Mensch geht, ein anderer heiratet – oder so.
Zweitens: Die Festlichkeiten zur Hochzeit beginnen mit einem Ice-Breaker-Event. Das schien mir weniger mexikanisch, sondern very international. Moderne Paare haben das Kennenlern-Fest vor der Hochzeit aus den USA übernommen. Das machte in diesem Fall auch Sinn. Schliesslich verliebte sich der deutsche Sebastian, ein alter Studiumskollege von Lars, in einem Auslandssemester in Mailand in seine Lorena. Nach gemeinsamen Jahren in London feiern sie nun in der Heimatstadt der Braut.
Gäste aus fünf Ländern sind angereist, um an der Boda [span. für Hochzeit] dabei zu sein. Sich vorher einmal kennenzulernen, scheint vernünftig.
Destination Weddings: Ein Trend, der boomt
Ich beobachte immer mehr Paare, die an weit entfernten Orten heiraten. Engländerinnen träumen von einer Hochzeit am Meer, indische Paare von einer Trauung im Winterwunderland Schweiz. Diese vermarktet sich aktiv als Hochzeitsdestination – mit Käsetastings, Alphornmusik und Schifffahrten. Eine lustige Vorstellung, wenn man bedenkt, dass ich kaum Schweizer kenne, die eine Alphorneinlage bei ihrer Hochzeit wollen. Aber genau darum geht es wohl: Etwas erleben, das man von zu Hause nicht kennt.
Der Boom zeigt sich auch finanziell: Marktforscher erwarten, dass der globale Hochzeitsmarkt bis 2028 von 32 auf 93 Milliarden Franken wächst. Auch, weil Hochzeiten an fremden und exotischen Orten stattfinden sollen. Social Media treibt den Trend an – und beflügelt den Wunsch, dass das Fest möglichst instagrammable wird. Zur Freude oder Frustration der Gäste, die Zeit und Geld investieren müssen. Auch Lars und ich haben lange überlegt, ob wir nach Mexiko reisen sollen. Wir entschieden uns dafür – verbunden mit einem längeren Urlaub.
Von Tacos, Timing und erstem Kennenlernen
Wäre Monterrey in den USA, lebten die Eltern der Braut wohl in Beverly Hills. Mit einem rot-rosa Cocktail-Kleid betrete ich den Vorplatz der Elternvilla, auf welchem meine 100-Quadratmeter-Wohnung aus Zürich locker Platz gefunden hätte. Denn hier findet der Icebreaker-Event statt. Zu meiner Linken bereitet eine Catering-Firma Tacos zu, während Drinks und Häppchen an die Gäste verteilt werden, worunter man Investmentbanker, Managerinnen oder Möbelhändler findet. Eine Szene, in die ich mich selten dazu stelle. Und ohne Einladung hätte ich mich wohl gefragt: «Bin ich hier richtig?»
Doch ich freue mich, eine neue Landschaft zu entdecken und bin überzeugt: an jedem unbekannten Ort lässt es sich an etwas Bekanntem anknüpfen. In diesem Fall helfen mir die Freunde von Lars, als vertraute Punkte in der neuen Kulisse.
Ich muss etwas schmunzeln, als ein befreundetes Paar sich Hilfe suchend an Bräutigam Sebastian wendet: «Weisst du, wann das Essen kommt? Für unsere Kleine ist es doch etwas spät», so der Papa. Klar. In Deutschland, wie in der Schweiz, gibt es um 18.00 Uhr Abendessen. Hier ist es bereits 20.30 Uhr und die Taco-Station noch nicht eröffnet. Der Magen des Kindes muss ich wohl noch an die Zeitumstellung, in kultureller Hinsicht, gewöhnen.
Das Dessert gehört den Toten
Ich schnappe mir einen Drink von einem Tablett der herumlaufenden Serviceangestellten und bestaune den Dessert-Tisch, der – ähnlich einem Altar – mit Totenköpfen und einer Catrina-Figur, einer personifizierten Todesgestalt, garniert ist. Wie bei Honig und Käse, werde ich hier noch öfters erkennen, wie das Thema Hochzeit und Tod miteinander kombiniert wird. Überraschend, aber irgendwie passend. Etwa so, wie der mexikanische Streetfood «Marquesita». Eine Art Nutella-Crêpe, in die Cheddar-Käse geraspelt wird. Klingt gewöhnungsbedürftig, ich weiss. Aber probiere es das nächste Mal, wenn Du in Mexiko bist und gib mir gerne Feedback.
Vor dem Tisch komme ich mit der Mutter der Braut ins Gespräch. «Weisst du, wir haben alles hingestellt, was unsere Verstorbenen zum Essen und Trinken mochten. So haben wir sie auch heute dabei», erklärt sie mir.
Gut, habe ich nachgefragt. Es wäre doch peinlich geworden, hätte ich mir ungefragt ein Stück von Abuelitas Lieblingskuchen gegönnt. Denn die Süssspeisen vor mir waren nicht für die Lebenden gedacht. Und das gefiel mir. «Wenn ich jemals heirate, will ich meine Grossmutter auch in irgendeiner Form dabei haben», notiere ich mir in meinem Kopf.

Zu schüchtern und kein Spanisch
In der Zwischenzeit wurde das Buffet eröffnet. Während Lars im Taco-Himmel ist, schaue ich mich weiter um. Denn ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht nur in meiner eigenen Bubble zu bewegen. Also unterhalte ich mich mit Marc, den ich nicht kenne, der aber zum Glück meine Sprache spricht. Mit ihm führe ich ein Gespräch, an das ich noch lange denken werde.

«Warst du schon an vielen Hochzeiten?», will ich von ihm wissen. Ich ertappe mich dabei, diese Frage in letzter Zeit häufiger zu stellen. Sind Lars und ich doch jetzt in dem Alter, in dem der Raum der unverheirateten Paare immer leerer wird und wir uns schon öfter von der Seite angeschielt haben im Sinne von: «Was machen wir eigentlich damit?»
Entsprechend spannend ist es für mich, wie andere Menschen zum Thema Hochzeit und Ehe stehen. Als wären sie Glückskekse und ich auf der Suche nach Weisheit.
Glückskeks-Gespräche über Ehe und Entscheidungsmut
«Ja, doch. Schon an einigen», meint er. Unter anderem an seiner eigenen. «Oh, wie toll! Ist deine Frau auch da?», frage ich weiter. «Nein, wir haben uns vor zwei Monaten scheiden lassen», entgegnet er. Mit dieser Wendung hatte ich nicht gerechnet. Kurz bleibe ich still. Dann frage ich Marc, ob er davon erzählen mag. Und so kommt es, dass er ein Stück seiner Weisheit mit mir teilt:
«Wir waren einige Jahre ein Paar, bevor wir uns entschieden, zu heiraten. Und eines vorweg: Ich bereue nichts. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens und ich würde es immer wieder tun. Doch zwei, drei Jahre nach der Hochzeit kam ich an einen Punkt, wo ich mich fragte: Und jetzt?».
Während er erzählt, muss ich an meine Eltern denken, die seit 15 Jahren kein Wort mehr miteinander reden. Im Gegenzug zu ihnen finde ich keine Wut in seinen Augen, während er darüber spricht. Aber vielleicht ist es anders, wenn man Kinder hat, wer weiss. So oder so: Ich finde es erfrischend.
Comfort-Zone-Exit und Beziehungsglück: Was bleibt, wenn das Neue ruft
Marc fährt fort, dass er einen gut bezahlten Job hatte. Ein Haus. Eine liebe Frau. Weiter sei beiden klar gewesen, dass sie keine Kinder wollen. «Weisst du, ich wollte stattdessen neue Hobbys entdecken, Orte bereisen. Doch irgendwie schienen meine Interessen nicht mit ihren übereinzustimmen. Wir hatten einfach zu wenig gemeinsam», erklärt er. Eines Tages sprach er sie darauf an und kurze Zeit später war beiden klar: Das war’s.
Ich sauge die Story auf wie ein Schwamm. Denn wie viele Paare setzen sich wirklich mit dem Gegenüber auseinander? Sind ehrlich mit sich selbst? Wie viele geben zu, dass in ihrer aktuellen Lage etwas nicht stimmt? Oder noch weiter: Wie viele wissen es und tun dann effektiv etwas dagegen? Ich weiss nur, dass ich für Letzteres verdammt lange gebraucht habe, was dazu führte, dass ich zu lange in der einen, oder anderen Beziehung blieb. Sei es in romantischer, aber auch beruflicher Hinsicht. Ich musste zuerst unglücklich genug werden, um meine Comfort-Zone zu verlassen. So wie Marc seine wohl vor zwei Monaten verliess.
Esther Perel und Nietzsche: Was Paare wirklich zusammenhält
Zudem bin ich überzeugt: Das Sprichwort «Gleich und Gleich gesellt sich gern» ist stärker als «Gegensätze ziehen sich an». Oder um es in den Worten der prominenten Paartherapeutin Esther Perrel zu sagen: «Es sind die Gegensätze, die zu Beginn spannend und aufregend wirken, die später Probleme bereiten». Verkürzt sagt Nietzsche dazu so etwas wie: «Gespräche sind das, was bleibt». Und das glaube ich auch. Marcs Geschichte liefert mir natürlich den perfekten Beweis dafür. Und das gefällt mir.
Trotzdem: Weder seine Beziehung, noch seine Heirat würde ich als Fehler bezeichnen. Wer mit so viel Wohlwollen spricht, bereut nicht. Und ich wünsche ihm für die Zukunft alles Gute.
Entwicklungspakete und andere Wunder des Erwachsenwerdens
In der Menge entdecke ich Lorena, die bald heiraten wird. Ihren studentischen Geist hat sie in den letzten zwei Jahren, seit unserem Kennenlernen, hinter sich gelassen. Denn ich beobachte eine Grand Dame im weissen Etuikleid, die galant von Gast zu Gast geht.
Wären Lorena und ich einfach Kinder, würde man jetzt, wo man uns so sieht, so etwas sagen wie: «Die sind aber gross geworden». Sie, herausgewachsen aus ihrem Architekturstudium, hinein ins Leben einer Stadtentwicklerin in London. Und ich, die damals noch über die Liebe zum Geschichtenerzählen sprach, und genau dies jetzt machen darf. Früher war mir nicht bewusst, wie sehr man sich auch als Erwachsene noch entwickeln würde. Und dass jedes Alter, auch nach 18 Jahren, ein neues Entwicklungspaket frei schaltet.
Schien mit 16 Jahre doch jede Entscheidung so endgültig. Erst Mitte 20 wurde mir klar, dass das Leben immer noch Abzweigungen hat, dass ich bei allem die Wahl habe, meine Meinung ändern kann, neue Wege einschlagen darf und kann. Und dass es immer gut kommt. Solange man aus Liebe entschiedet – und nicht aus Angst. Wer auch immer gesagt hat «Angst ist ein schlechter Ratgeber» hatte recht.
An dem Abend gehe ich früh schlafen. Ich will fit sein für den grossen Tag. Wir kennen uns kaum, doch ich wünsche Lorena in stiller Schwesternschaft alles Gute.
Here comes the bride
«What is Love?», wirft der Pfarrer in den Raum. «Baby don’t hurt me, don’t hurt me, no more», antworte ich leise. Kichernd sitzen Lars und ich in der sechsten Reihe rechts. Die Kirche ist schön, in ungewohnt hellen Tönen in Braun und Beige. Dass ich das Meiste der, auf spanisch abgehaltenen Zeremonie, nicht verstehe, macht mir nichts aus, denn: Wir sind mindestens zu dritt. Lars, ich und – Bräutigam Sebastian. Immer wieder geht sein Blick ratsuchend zu Lorena, die ihm erklärt, was der Pfarrer von ihm will.
Strahlend läuft sie den Gang zum Altar hinab, mit weissen Orchideen in der Hand, die für Reinheit, Respekt und Neuanfang stehen, wie ich später nachlesen werde. Und passend zu ihrem klassischen Hochzeitskleid aus Satin ertönt bei ihrem Einlaufen: «Here comes the bride».

El Lazo: Das Band, das zwei Menschen verbindet
«Was machen die da?», frage ich Lars nach einer Weile. Bis zum Ehegelübde kannte ich das Hochzeitsprozedere mehr oder weniger. Inklusive katholischem Workout mit Aufstehen und wieder Hinsetzen. Doch jetzt geht der Pfarrer zum Ehepaar und legt einen riesigen Rosenkranz um die Beiden, um einige Worte zu sprechen. «Das ist El Lazo», antwortet die Frau neben mir. Mit ihrem roten Kleid und den blonden, hochgesteckten Haaren wirkt sie wie eine böse Stiefschwester aus einem Märchen auf mich. Doch sie ist sehr nett. «Das ist eine Art Vereinigungszeremonie, um das Paar symbolisch zu verbinden», fährt sie fort.
Der Padrino und die Madrina, wichtige Menschen in der Familie, würden das Band in Form einer Acht um Braut und Bräutigam wickeln. «So wird die Einheit, die nun zwischen dem Paar besteht, gezeigt», so die Frau.
Khalil Gibran statt Pfarrer: Gedanken über eine gesunde Ehe
Das finde ich sehr schön. Nur eine Passage vom Pfarrer, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte, irritiert mich. «Von jetzt an besteht die einzige Aufgabe darin, dein Gegenüber glücklich zu machen. Bis dass der Tod euch scheidet», predigt er zusammengefasst. An dieser Stelle erlaube ich mir einen Gegenvorschlag vom Dichter und Philosoph Khalil Gibran aus seinem Buch «Der Prophet». Zur Ehe äussert er sich folgendermassen:
«Liebt einander, aber macht aus der Liebe keine Fessel: Sie sei eher eine wogende See zwischen den Küsten und euren Seelen. […] Singt und tanzt und freut euch zusammen, aber gestattet einander, je für sich allein zu sein. Gerade so, wie die Saiten einer Laute allein sind, auch wenn sie von derselben Musik erzittern. […] Und steht zueinander. Doch nicht zu dicht beieinander. Denn die Säulen des Tempels stehen je für sich. Und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht jedes in des anderen Schatten».
Ich glaube, das, was Gibran vor über 100 Jahren hier beschreibt, ist das, was wir heute als «gesunde Beziehung» verstehen. Und genau das wünsche ich dem Paar.
Eclectic Fall: Jetzt ist Partitiiiime
Der offizielle Teil ist durch und ab jetzt heisst es: «Partytiiiiime». Fruchtige Drinks, aus denen Trockeneis wabert, verleiht der «Hacienda», dem Landgut, auf dem das Fest stattfindet, eine futuristische Note. Gespickt werden die Cocktails durch die farbigen Kleider der Gäste in rot, gelb, orange, grün und blau. Bei der Umsetzung des Farbmottos «Eclectic Fall», hätte ich den Gästen die Höchstpunktzahl verliehen. Abgerundet wird das Bild von einem romantischen Blumentor, in den passenden Farben versteht sich, welches das Verbindungsstück zwischen Empfang und Essbereich darstellt. Aufgeregt beginne ich, am Hemd von Lars zu zupfen, als wir hindurchlaufen.




«Hör mal, erkennst du es?». Ich deute auf die Sängerin, die in der Mitte des Innenhofs ein Lied anstimmt. Er schüttelt unbeeindruckt den Kopf. Doch ich bin mir sicher. Dieses Lied verfolgt uns schon seit Beginn dieser Mexikoreise. Es kam zu uns durch das Autoradio in Tulum, war Teil der Spotiy-Liste eines Kaffees in Bacalar und trieb durch die Gassen Cancuns, als in unmittelbarer Nähe unseres Airbnb drei Altäre aufgestellt wurden. Und jetzt will ich wissen, wie es heisst.
«Entschuldigung, kennen Sie dieses Lied?», frage ich einen Kellner, der an mir vorbeigeht, als ich mich an den für uns vorgesehenen Tisch setze. Entgeistert schaut er mich an. «Natürlich. Das ist ‹La LIorona›. An seiner Reaktion erkenne ich, dass die Frage hier in Mexiko so doof ist, wie wenn ich in der Schweiz gefragt hätte: «Kännet sie s Lied d ‹W. Nuss vo Bümpliz›?».
La Llorona und die Schönheit des Schmerzes
Dennoch gibt er mir Auskunft: «Die Legende der Llorona erzählt von einer Frau im weissen Gewand, die aus Not, Leid und Eifersucht wegen ihres sie betrügenden Ehemanns ihre eigenen Kinder im Fluss ertränkt und sich selbst richtet». Die Geschichte und das Lied würden auf verschiedene Arten interpretiert. «Doch beides wird stark mit dem Tag der Toten in Verbindung gebracht», schliesst der Mann mit Tablett, schwarzen Handschuhen und Anzug ab.
Der Song ist so furchtbar traurig – ich verliebe mich sofort. Und ich freue mich, jetzt den Namen gefunden zu haben. Und da war sie wieder: Die Dualität dieses Wochenendes, zwischen Ende und Neuanfang, die miteinander kombiniert werden. Auf jedem Teller finden sich kleine Totenköpfe aus Wachs zur Dekoration und selbst Braut Lorena hat ihre weissen Orchideen mit orangefarbenen «Cempasúchil», sprich Studentenblumen, ausgetauscht.


Diese ist dafür bekannt, nur zu dieser Jahreszeit zu blühen und schmückt während Dia de los Muertos Gräber, Altare, und Frauen, die die Blume in den Haaren tragen. Es war ein stimmiges Bild, das fliessend in das überging, worauf alle gewartet hatten: Essen, Trinken, Tanzen und – Mariachis!
Mariachis und Blaskapellen: Wenn Mexiko und Bayern plötzlich harmonieren
In knackig-türkisblauen Outfits, als wäre die Skinny-Jeans nie out gewesen, stellt sich ein Ensemble von etwa zwölf Musikern und einer Sängerin auf, um die Gäste an ihren Plätzen willkommen zu heissen.
Kleiner Fun Fact: Mexikanische und Deutsche Volksmusik haben durch die französische Besatzung im 19. Jahrhundert gewisse Berührungspunkte, da auch Menschen aus Deutschland nach Mexiko kamen. Und wenn man genau hinhört, lassen sich eine bayrische Blaskapelle und Mariachis auf jeden Fall nebeneinander stellen. Eine witzige Vorstellung, nicht?

Gedanken über Kinder, Karriere und das Erwachsensein
Kurz gibt es Hektik. «Du hast den Babymonitor doch eingepackt? Häää? Oder war es in der anderen Tasche?». Die Babys unserer Freunde, die mit uns am Fest waren, schlafen mittlerweile im Nebenraum. Doch es lässt sich schlecht tanzen, wenn man nicht weiss, wann die Kinder wieder wach sind. Kurz schielt Lars zu mir rüber.
Ist Hochzeitsfrage doch von der Babyfrage nicht weit weg? Zusammen mit Job- und Karriereschritten schaltet sich somit das nächste Entwicklungspaket frei: «Hallo, du bist jetzt Anfang 30 und darfst dich mit Dingen herumschlagen, von denen du dachtest, dass sie für dich in ewig langer Ferne liegen und du dir jetzt denkst: WTF, wann bin ich so alt geworden?».
Doch das Unboxing von all dem kann heute warten. Denn hier geht gleich ein Marathon los. Zumindest sieht es so aus. Denn als wüsste jeder, dass gleich der Startschuss fällt, haben sich ausnahmslos alle Gäste um die Tanzfläche versammelt – bereit loszutanzen.
Geheimer Reisetipp abestaubt
Das Fest gleicht einer Zaubershow, in der gefühlt alle Teil davon sind – bis auf mich. Begeistert warte ich auf den nächsten Trick und wundere mich immer wieder, aus welchem Hut die ganzen Requisiten gezaubert werden. Einmal haben Gäste Leuchtwesten an und schwenken wild Neon-Leuchtstäbe hin und her. Ein anderes Mal tragen einige mexikanische Wrestling-Masken, sogenannte Lucha-Libre-Masken. Dann wieder tauchen Pappschilder auf, mit Braut und Bräutigam darauf, dargestellt in den Kleidern der jeweils anderen Kultur. Lorena im Dirndl, Sebastian trägt stattdessen Poncho und Sombrero. Während man sich in Europa vor solchen Stereotypen hütet, scheint das hier niemanden zu stören.
Pause vom Tanzen nimmt man sich hier nur beim Rauchen. Bei der zuvielten Zigarette des Abends (warum raucht man an solchen Party eigentlich immer so viel?) lerne ich den Onkel von Lorena kennen. Gleich zu Beginn stellen wir fest, dass wir zu seiner Heimatstadt Monterrey gleicher Meinung sind: Schön ist anders. Was wiederum zu einem Insidertipp seinerseits führt.
«Die schönste Stadt in Mexiko ist «Guanajuato», meint er. Wenn ich jemals wieder komme, dann müsse ich dorthin. «Du kommst nur durch ein Tunnelsystem in die Stadt, das ist magisch», fährt er fort. Schnell mache ich mir eine Notiz auf dem Handy. «Guanajuato, Stadt mit vielen Tunnels und farbigen Häusern, wichtig im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien». Perfekt! Genau deswegen liebe ich es, mit fremden Menschen in Kontakt zu kommen.
Mit Wein gefüllte Babyflaschen: Einfach nur smart
Zurück auf der Tanzfläche ist die nächste Requisite da. Niemand hat mehr Weingläser in der Hand. Stattdessen nuckeln alle an Babyflaschen. Zumindest sieht es so aus. «So gehen beim Feiern keine Gläser kaputt», erklärt mir die «böse Stiefschwester», die mir in der Kirche bereits das «El Lazo» erklärt hatte und drückt mir eine kleine Plastikflasche mit Schnabelöffnung in die Hand. Auch ich leere meinen Weisswein um. So tanzt die Hochzeitsgesellschaft weiter, in Abendkleidern, Anzügen, Gästepantoffeln und mit Nuckelflaschen, bis es Zeit war zu gehen.



Wie zu Beginn dieses Wochenendes sitze ich im Taxi zurück zum Hotel.
Nach dem Tequila kommt die «Cruda»
Ich hatte Piñatas und Revolver im Kopf – stattdessen fand ich eine Hochzeit, die in vielen Dingen überraschend vertraut wirkte. Vielleicht wird die Welt tatsächlich immer ähnlicher. Vielleicht aber müssen Klischees, die ich im Kopf nachträglich korrigiert habe, nicht bedient werden.
Oder es sind die universellen Erfahrungen, die sich in den verschiedensten Teilen dieser Welt finden lassen: Frisch verheiratete, die freudig in die Zukunft schauen und frisch Geschiedene, die sich gerade wieder neu orientieren. Junge Eltern, jonglierend zwischen Babyflaschen, Windeln und dem Leben drumherum und denjenigen, die sich noch fragen wohin die Reise genau führt.
So oder so: Dazwischen steckt immer noch das Unerwartete: Wie Deutsche, die an einer Feier definitiv mehr Tequila trinken als Mexikaner. Eine überraschend stimmige Verbindung zwischen Hochzeit und Tod. Ein Lied, das mich die ganze Reise über nicht losliess. Oder eine Hochzeitsfeier, die Menschen aus allen Ecken der Welt zusammembringt.
Eine letzte universelle Erfahrung stand mir für dieses Wochenende noch bevor. «La Cruda» nennt man es in Mexiko. Für uns besser bekannt als Katerfrühstück. Übernächtigt beisse ich in den Burger, mit etwas mehr scharfer Salsa hat als gewohnt und denke mir: «Das war es Wert».

Sign up